Sven-Eric Bechtolf als “Richard II.” am Thalia Theater
Das Ende steht am Anfang. König Richard II. ist tot. Blut fließt aus seinem Mund. In den Sekunden vor seinem gewaltsamen Ableben im Kerker von Pomfret zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei. Nicht chronologisch und höchst subjektiv. Denn die junge Regisseurin Cornelia Rainer und ihr Protagonist Sven-Eric Bechtolf haben Shakespeares figurenreiches Königsdrama auf die Titelfigur reduziert. Dieses Solo über einen toten König wurde im Thalia Theater zur triumphalen Rückkehr eines Schauspielers, der hier in derÄra Flimm bis zum Jahr 1999 große Erfolge gefeiert hatte. Man muss schon ein Könner wie Bechtolf sein, um diesen Part zu bewältigen, denn im Laufe der 90 Minuten muss er auch in die Rollen seines Gegenspielers Bolingbroke, des späteren Königs Heinrich IV., dessen Vater Johanns von Gaunt und weiterer Höflinge schlüpfen.
Richard II. ist bei Shakespeare ein Bankrotteur und Schöngeist, einer der sich mit falschen Ratgebern umgibt und das Geld seiner Untertanen mit beiden Händen zum Fenster hinaus wirft. Kein Intrigant, sondern ein Wesen, das als unantastbarer, von Gott gesegneter Herrscher auf dem Thron sitzt. Bechtolf verleiht ihm die Züge eines selbstgefälligen Regenten. Er berauscht sich an seiner Macht, tänzelt faunisch über die Bühne, küsst dutzendfach nach ihm ausgestreckte Hände und zieht aus dem Boden eine lange blaue Samtrobe hervor, prachtvolle Insignie seines Königtums. Er setzt sich auf seinen Thron, schwadroniert herum, und gefällt sich in dieser Rolle, die in dem Ausruf “Lang lebe Richard!” gipfelt. Dieser König hat etwas von einem Borderliner, der nicht erkennt, was um ihn herum geschieht, der als Herrscher eine falsche Entscheidung nach der anderen trifft und deshalb von seinem Wiedersacher Bolingbroke, “einem Mann des Volkes”, entmachtet wird.
Cornelia Rainer Inszenierung zeigt den tiefen Fall eines Mächtigen, der nicht versteht, warum seine Vormachtstellung endet. Der von sich sagt: “Ich bin die Sonne.” Richards Reaktionen ähneln denen von Politikern, die aus dem Amt gejagt werden, und Wirtschaftsbossen, die Knall auf Fall ihre Schreibtische räumen müssen, weil sie Milliarden versenkt oder Millionen in die eigene Tasche gewirtschaft haben. Dieser Fall bedeutet den Verlust des Rangs und des Namens. “Wie soll ich mich nennen?”, fragt Richard, nachdem Bolingbroke sich die Königskrone aufs Haupt gesetzt hat. Die Reduktion der Persönlichkeit ist total.
Diese von Cornelia Rainer und der Dramaturgin Susanne Meister erarbeitete Textfassung streift nur am Rande die Intrigen und Ränke an Richards Hof. Shakespeares Drama in seiner ursprünglichen Form würde sich als Vorlage für eine sehr viel politischere Inszenierung eignen, denn diese Lügen und gegenseitigen Beschuldigungen um des eigenen Vorteils willen sind von brennender Aktualität. Doch auch die Konzentration auf den König und seinen Umgang mit der Realität trägt moderne Züge und ist weit mehr als reines Schauspielertheater. Jedoch empfiehlt es sich, vor dem Besuch einer der nächsten Aufführungen Shakespeares Text oder eine genaue Inhaltsangabe zu lesen. Das erleichtert das Verstehen und macht diesen Abend dann noch viel mehr zu einem großartigen Theatererlebnis.