Julius Winsome schießt zurück

winterinmaineEr lebt allein in einer Blockhütte in den Wäldern von Maine, zusammen mit seinem Hund  und 3282 Büchern. Seinen Lebensunterhalt verdient Julius Winsome als Gärtner und und als Schrauber in einer Autowerkstatt. Über soziale Kontakte verfügt er nicht mehr, seit Claire irgendwann nicht mehr in seine abgelegene Hütte gekommen ist. Die junge Frau tauchte eines Tages wie auf dem Nichts auf. Der gebildete Eremit und seine Privatbibliothek faszinierten sie. Claire war auch diejenige, die Winsome dazu überredete, sich den Pitbullterrier anzuschaffen, für den sie gemeinsam den Namen Hobbes nach dem englischen Philosophen aussuchten. Als sie nicht mehr auftaucht, bleibt Julius Winsome nur sein Hund. Hobbes ist für den Einzelgänger Winsome mehr  als nur ein Haustier. Er ist der einzige  Begleiter und treuer Freund. Als Hobbes an einem Oktobertag von einer Ladung Schrot  durchsiebt getötet wird, gerät  Julius Winsomes so ruhiges und friedliches Leben aus den Fugen. Er nimmt das von Großvater und Vater geerbte Gewehr, um  Rache zu nehmen. Sechs Männer, allesamt Jäger, werden sterben.

Die Story von Gerard Donovans Roman “Winter in Maine” ist eigentlich ungeheuerlich. Sechs Menschen müssen ihr Leben für das eines Hundes geben. Man kann sich die Schlagzeilen des Boulevards vorstellen, wenn diese fiktive Geschichte sich in der Realität ereignet hätte: “Wahnsinniger schlachtet Familienväter ab” oder “Der eiskalte Killer aus dem Wald”  würden Julius Winsome  vorverurteilen und zum Geisteskranken abstempeln. Aber sind nicht vielleicht die anderen die Mörder? All jene, die mit ihren teuren Geländewagen und ihren blankgeputzten Repetiergewehren in die Wildnis fahren, um ihrer Lust am Schießen und am Töten nachzugehen. Trophäensammler, die so lange rumballern, bis sie endlich einen Hirsch oder einen Schwarzbären erlegt haben. Julius Winsomes Wertesystem unterscheidet sich vom der Menschen, die in Dörfern und Städten wohnen. Er lebt mit der Natur, mit den Blumen, die im Sommer auf den Waldlichtungen erblühen, mit den Bäumen, die seiner Hütte Schutz geben und mit den Tieren, die er nicht fürchten muss, weil er ihre Eigenarten kennt. Diese Jäger dringen in seine Privatsphäre ein und bedrohen das Leben der Tiere in seiner Umgebung. Winsome ist eine archaische Figur, der im Wald nach ihren Gesetzen lebt und die sich verteidigt – eine Haltung, ähnlich der viele Amerikaner, die  im 18. und 19. Jahrhundert auf ihrem Weg nach Westen den nordamerikanischen Kontinent besiedelten.

Bevor Julius Winsome loszieht, um zurückzuschießen, hat er das Lee-Enfield-Gewehr Modell 14 aus dem Ersten Weltkrieg nur zweimal benutzt, um schwer verletzte Tiere von ihren Leiden zu befreien. Er ist das Gegenteil eines Killers. Obwohl er für den Tod von sechs Menschen verantwortlich wird, bekommt er die Sympathie des Lesers.  Als Ich-Erzähler lässt Winsome den Leser an seinen Gedanken  teilhaben, die sich manchmal zu Wahnvorstellungen auswachsen.  Julius Winsome ist ein mitfühlender Mensch, der sich für die Sprache Shakespeares begeistert, der stundenlang vor seinem Kaminfeuer sitzt und sich in Weltliteratur versenkt.  Er denkt oft an die Erzählungen seines Großvaters zurück, der die Marne-Schlacht im Ersten Weltkrieg überlebt hat und den im Traum die Männer verfolgen, die er als Soldat getötet hat. Winsome reflektiert Tod und das Töten. Das Gewehr macht ihm Angst. Doch der Tod seines Hundes wirft sein Leben aus der Bahn. “Ich war der Stock, der gegen die Welt geschwungen wurde…Ich war das Gewehr. Ich war die Kugel, das Ziel, das, was ein Wort bedeutet, wenn man es ernst nimmt. Genau das bedeutet Rache, selbst wenn’s geschrieben ist.”

Julius Winsomes Handlungen haben etwas Unausweichliches. Und sie sind ein Beispiel für die bedingungslose Liebe zu einer Kreatur. Hobbes steht  diesem gezwungenem Schützen genauso nah wie anderen Menschen der  Partner oder das Kind. Hier mordet jemand aus Liebe, der nichts mehr zu verlieren hat, weil er bereits alles verloren hat.

Gerard Donovan: Winter in Maine. 208 Seiten, Luchterhand Verlag, München. 2009


Der Autor: Gerard Donovan wurde 1959 in Wexford/Irland geboren. Er hat Gedichte, Shortstorys und drei Romane veröffentlicht. “Winter in Maine” (Originaltitel: “Julius Winsome”) erschien im Original  im Jahr 2006. Donovan  lebt heute in einer ehemaligen Bahnstation im US-Bundesstaat New York.

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