Michael Hanekes preisgekrönter Film “Das weiße Band”
Ein Mund wie ein Strich. Streng. Verkniffen. Kalt. Wenn er sich öffnet, spricht er Ermahnungen, strenge Regeln, Strafen aus. Die Worte prasseln auf die Adressaten nieder wie die Schläge eines Gürtels. Güte hat kaum einen Platz im Denken und Handeln des Pfarrers (Burghart Klaußner). Jeder in seiner Familie hat sich den strengen Regeln und der orthodoxen protestantischen Moral unterzuordnen. Bei Verstößen setzt es Schläge mit dem Gürtel. Und das weiße Band wird angelegt, das Michael Hanekes “deutscher Kindergeschichte” den Titel gibt. Es steht eigentlich für Unschuld und Reinheit, hier jedoch bedeutet es ein sichtbares Stigma für die Verfehlungen der Pfarrerskinder Klara und Martin (Leonard Proxauf, siehe Foto)
Die dörfliche norddeutsche Welt, die Haneke kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges zeigt, ist geprägt von harter Arbeit, Enge und einem Klima der Repression. Gelacht wird hier nicht. Der Pfarrer als moralische Instanz, der Gutsherr (Ulrich Tukur) als allmächtiger Arbeitgeber und der Arzt (Rainer Bock) sind die Säulen dieses Systems, dem sich jeder unterzuordnen hat. Doch ein paar ungeklärte Vorfälle bringen dieses starre System in Unordnung und bedrohen es: Der Arzt stürzt zu Pferde über einen heimtückisch gespannten Draht, eine Scheune des Gutsbesitzers brennt ab, sein Filius wird an einen Baum gefesselt gefunden, der zurückgebliebene Sohn der Hebamme (Susanne Lothar) wird ebenfalls gequält und schwer verletzt, der Pfarrer schließlich findet auf seinem Schreibtisch seinen mit einer Schere aufgespießten Wellensittich.
Es sind kleine Akte des Terrors, Schuldige werden nicht überführt, aber man ahnt, dass die Dorfkinder hinter diesen Untaten stecken. Sie sehen adrett aus, aber ihre Gesichter sind verschlossen und verschlagen. Man spürt, dass sie nicht die Wahrheit sagen, man ahnt, dass sie sich gegen Eltern und Obrigkeiten zur Wehr setzen, aber sie handeln fast nie offen. Haneke zeigt eine Kindergeneration voller Gefühlskälte, kleine Monstren, bereit zu Untaten ohne Gewissensbisse. Eine Generation, die 1933, im Jahr der Machtergreifung durch die Nazis, etwa 30 Jahre alt sein wird.
Doch diese Kinder sind nur das Produkt des Systems, das ihnen von den Erwachsenen vorgelebt wird. Selten hat man im Kino eine Szene gesehen, in der ein Mensch mit Worten derart brutal erniedrigt wird wie die Hebamme durch den Arzt, mit dem sie über Jahre ein sexuelles Verhältnis hat und der der Vater ihres behinderten Kindes ist. “Du bist hässlich, du bist ungepflegt, deine Haut ist schlaff und du riechst aus dem Mund”, schleudert er der Frau ins Gesicht. “Ich hab versucht, mir eine andere vorzustellen, wenn ich mit dir schlafe, eine, die gut riecht, die jung ist und weniger ausgeleieret als du, aber das überfordert meine Phantasie….Ich hätte auch eine Kuh bespringen können.” Später missbraucht der Arzt seine 14 Jahre alte Tochter, ein Akt allmächtiger Perversion.
Doch es gibt auch Figuren, die offen opponieren. Max (Sebastian Hülk), der Sohn eines Bauern, schlägt dem Gutsherren ein Feld mit Kohlköpfen ab, weil er den Baron für den Unfalltod seiner Mutter verantwortlich macht. Die Frau des Barons (Ursina Lardi) verlässt das Dorf mit ihrem Sohn und begibt sich nach Italien. Hier wird das Exil späterer Generationen vorweggenommen, wenngleich es bei der Baronin ein freiwilliges ist. Man muss dieses Land und seine Bewohner fliehen.
Haneke hat “Das weiße Band” in schwarz-weiß gedreht, der Himmel über Eichwald, so der Name des Dorfes, leuchtet nicht blau, er zeigt sich in Grautönen. Die Bilder sind von einer beeindruckenden Brillanz, geschickt arbeiten der Regisseur und sein Kameramann Christian Berger mit den Möglichkeiten verschiedener Schattierungen und greller Helligkeit. Idyllische Lieblichkeit ist angesichts dieses ästhetischen Verfahrens ausgeschlossen.
Haneke deutet vieles nur an. Doch gerade diese Auslassungen erzeugen das Klima der Bedrohlichkeit, der lauernden Brutalität, die sich urplötzlich Bahn bricht, ohne dass man sie kommen sehen könnte. Das ist der Terror, wie ihn unzählige Menschen jeden Tag in den Krisengebieten der Welt erleben. Haneke macht ihn spürbar. Deshalb ist “Das weiße Band” einer der herausragenden Filme dieses Jahres und vor ein paar Monaten zu Recht mit der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet worden.
Das weiße Band D/A/F/I 2009, 150 Minuten; R. Michael Haneke, D: Burghart Klaußner, Ulrich Tukur, Josef Bierbichler, Steffi Kühnert, Susanne Lothar, Rainer Bock, Detlev Buck, Christian Friedel, Leonie Benesch, Ursina Lardi